Symbolbild (Foto: © Norman Buse)

Wann ist die Bezeichnung einer Person als Antisemit zulässig?

26.01.2022 | Medien- und Wirtschaftsrecht

Im Medien- und Äußerungsrecht geht es häufig um die Frage, wann eine Person als rechts, rechtsradikal oder antisemitisch bezeichnet werden darf.

Es wird in solchen Fällen regelmäßig darüber gestritten, ob ein rechtswidriger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegeben ist oder die Äußerung noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Dabei sind wie so häufig die betroffenen Grundrechte gegeneinander abzuwiegen.

So war es auch in einer kürzlich ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (11.11.2021, Az.: 1 BvR 11/20) in Bezug auf den bundesweit bekannten Sänger Xavier Naidoo. Die Verfassungsbeschwerde einer Referentin der Amadeu Antonio Stiftung wehrte sich erfolgreich gegen das Verbot, Xavier Naidoo als „Antisemiten“ bezeichnen zu dürfen.

Die politischen und weltanschaulichen Ansichten des Mannheimer Sängers gaben Anlass zur Bezeichnung als „Antisemit“

Die Beschwerdeführerin ist eine politische Bildungsreferentin der Amadeu Antonio Stiftung. Die AAS setzt sich nach eigenen Angaben für eine demokratische Zivilgesellschaft ein, „die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“.

Als Fachexpertin für rechtsideologisch geprägte Verschwörungsideologien hielt die Beschwerdeführerin einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Die an den Vortrag anknüpfende Publikumsfrage, wie sie Xavier Naidoo in diesem Kontext einschätze, beantwortete sie folgendermaßen:

„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“

Der Mannheimer Singer-Songwriter sorgte aufgrund seiner politischen Ansichten in der Vergangenheit des Öfteren für Aufsehen. Beispielhaft seien sein Auftritt als „systemkritischer“ Redner bei einer Reichsbürger-Demonstration im Jahre 2014 sowie sein Interview für die STERN-Zeitschrift von 2015 genannt, in welchem er andeutete, 9/11 sei kein terroristischer Akt von außen gewesen und Deutschland stehe als nicht souveränes Land unter der ständigen Überwachung durch die Amerikaner.

Letztere Auffassung bestärkte Naidoo in seinem skandalträchtigen Song „Marionetten“ von 2017, in welchem dem Zuhörer vermittelt wird, man müsse gewaltsam gegen die von Naidoo als „Volks-in-die-Fresse-Treter“ bezeichneten Politiker vorgehen.

Bereits 2009 geriet er wegen der stark polarisierenden Lyrics von „Raus aus dem Reichstag“ in den Fokus der Medien. Mehr oder weniger offensichtliche Anspielungen auf die jüdische Bankiers-Familie Rothschild („Baron Totschild“) und deren „böse“ Taten machten diesen Song besonders in der rechten Szene populär.

Dennoch hat der Sänger stets betont, dass er selbst keine antisemitische Haltung einnehme und auch kein Verschwörungstheoretiker, sondern „Wahrheitssuchender“ sei. Als ein Mann, der Initiativen gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass wie „Brothers Keepers“ und „Rock gegen Rechts“ unterstützt und „nur in den nötigsten Fällen“ klagt, sah er sich daher durch die Behauptung der Beschwerdeführerin, er sei nachweislich ein Antisemit, tief in seiner Ehre verletzt. -Und klagte vor dem Landgericht Regensburg auf Unterlassung hinsichtlich dieser Bezeichnung sowie der Behauptung bezüglich der strukturellen Nachweisbarkeit.

Persönlichkeitsrecht vs. Meinungsfreiheit: Fachgerichte verbieten zunächst die Bezeichnung als „Antisemit“

Sowohl das LG Regensburg (17.07.2018, Az.: 62 O 1925/17) als auch das OLG Nürnberg als Berufungsinstanz (22.10.2019, Az.: 3 U 1523/18) entschieden zugunsten des Klägers. Sie hatten die Bezeichnung als „Antisemit“ als besonders intensiven und weitreichenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Sängers eingestuft und diesem dann im Rahmen einer Interessenabwägung zwischen der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG mehr Gewicht zugemessen. Doch warum kam es überhaupt zu einer Interessenabwägung?

Tatsachenbehauptung, Schmähkritik oder zulässige Meinungsäußerung – Wo liegen die Grenzen?

Um diese Frage zu klären, muss zunächst die Tatsachenbehauptung von der Meinungsäußerung als Werturteil abgegrenzt und anschließend eine Schmähkritik ausgeschlossen werden.

Eine Tatsachenbehauptung ist im Gegensatz zu einem Werturteil auf Grundlage objektiver Umstände dem Beweis zugänglich.

Dafür müsste der Begriff „Antisemit“ zunächst einmal definiert werden können, um eine Zuordnung einer Person auf Grundlage ihrer Taten und Äußerungen zu ermöglichen. Die Beschwerdeführerin führte diesbezüglich aus, dass es zumindest für die von ihr intendierte Zuordnung zu einem modernen Antisemitismus keine allgemeingültige Definition gebe. Dieser sei zwar von dem Leitgedanken geprägt, dass Juden qua ihrer kapitalistischen Superiorität die Weltherrschaft anstreben, jedoch würde nach Auffassung der Fachreferentin diese Ansicht nicht mehr offen kommuniziert, sodass es letztlich unmöglich ist, bestimmte versteckte Anspielungen so zusammenzutragen, dass sich daraus eine Definition des modernen Antisemitismus ergibt. Die Fachgerichte schließen eine Tatsachenbehauptung vorliegend aus. – Ohne allerdings Bezug auf die Ausführungen zum modernen Antisemitismus zu nehmen.

Die Frage, ob es sich bei polemischen Äußerungen um Schmähkritik handelt, muss stets unter Abwägung der Einzelumstände festgestellt werden. Jemanden nicht lediglich als dem jüdischen Volk „nicht wohlwollend gesinnt“ zu bezeichnen, sondern gleich auf den Begriff des „Antisemiten“ zurückzugreifen, kann als überspitzt bzw. polemisch eingestuft werden.

Allerdings hat das BVerfG in einer anderen Verfassungsbeschwerde entschieden, dass ehrenrührige und polemische Äußerungen durchaus vom Schutzbereich des Art. 5 GG umfasst sind, sofern ein hinreichend sachlicher Bezug vorliegt und es dem Äußernden nicht allein darum geht, den Betroffenen herabzuwürdigen (vgl. BVerfG 14.06.2019, 1 BvR 2433/17). Ergo ist das Vorliegen einer unzulässigen Ehrbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der für den demokratischen Verfassungsstaat essentiellen Meinungsfreiheit eng auszulegen. – Insbesondere, wenn es sich bei dem Betroffenen um eine Person der Zeitgeschichte handelt, deren Handlungen von der Allgemeinheit besonders kritisch unter die Lupe genommen werden (sollten).

Vorliegend hat sich die Fachreferentin im Rahmen eines unter anderem diesem Thema gewidmeten Vortrags geäußert, sodass von einem hinreichenden sachlichen Bezug ausgegangen und eine reine Herabwürdigung ausgeschlossen werden kann.

Da sowohl eine widerlegbare Tatsachenbehauptung als auch eine Schmähkritik ausgeschlossen wurden, kam es in einem letzten Schritt zu einer Interessenabwägung zwischen den betroffenen Grundrechten, im Zuge derer sowohl das LG Regensburg als auch das OLG Nürnberg den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht mit Blick auf den thematischen Bezug zur nationalsozialistischen Diktatur und dem Holocaust als besonders schwerwiegend einstuften und die Meinungsfreiheit daher zurücktreten ließen.

BVerfG: Das Verbot, Xavier Naidoo als Antisemiten zu bezeichnen, verletzt das Recht auf Meinungsfreiheit

Die Beschwerdeführerin sah sich durch die Urteile in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt, da die Bedeutung und Tragweite derselbigen verkannt worden sein sollen. Insbesondere kritisierte sie die Anwendung der Grundsätze aus der Stolpe-Entscheidung des BVerfG von 2005. Diese als „Stolpe-Doktrin“ bekannte Rechtsprechung meint, dass bei mehrdeutigen Aussagen diejenige Deutungsvariante herangezogen werden solle, welche den Betroffenen am schwersten in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt.

Das OLG Nürnberg hatte unter Zugrundelegung dieser Doktrin die Verwendung des Begriffes „Antisemit“ dahingehend ausgelegt, dass die Beschwerdeführerin einen über eine bloße negative Meinung von Juden hinausgehenden Hass gemeint hätte, der Züge nationalsozialistischen Gedankenguts inklusive einer gewissen Handlungsbereitschaft widerspiegele.

Die Beschwerdeführerin rügte die Auslegungsweise als unzulässig, da es sich bei dem von ihr verwendeten Antisemitismus-Begriff nicht um den handele, den die Gerichte ihr unterstellten. Wie sie bereits im Laufe des Verfahrens betont hatte, handele es sich bei dem von ihr verwendeten Begriff um eine Bezugnahme auf einen modernen, nicht definierbaren Antisemitismus, der nicht offen kommuniziert werde.

Außerdem könne die Meinungsfreiheit nicht schon deshalb stärker eingeschränkt werden, weil es sich bei dem Betroffenen um eine in der Öffentlichkeit stehende Person der Zeitgeschichte handelt. Gerade wegen seiner Liedtexte und Auftritte, welche als öffentliche Plattform für das Kundtun seiner persönlichen politischen Ansichten fungieren, müsse er sich in besonderem Maße Kritik aussetzen.

Das Bundesverfassungsgericht erkannte die Verfassungsbeschwerde für zulässig und offensichtlich begründet an.

Die Fachgerichte haben dem BVerfG nach zwei Fehler gemacht: Zum einen haben sie den Sinn hinter dem Begriff „Antisemit“ nicht richtig erfasst, da sie den konkreten Kontext und die Begleitumstände außer Acht gelassen haben. Zum anderen haben sie in der abschließenden Interessenabwägung die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im Rahmen eines „öffentlichen Meinungskampfes“ von allgemeinem Interesse verkannt.

Die fehlende Kontextualisierung hinsichtlich genau der notwendigen Informationen, die ein unvoreingenommenes Durchschnittspublikum zur Deutung des Begriffes benötigt, äußerte sich in einer abstrakten Prüfung des Antisemitismus-Begriffes, bei der sämtliche mögliche Deutungsvarianten herangezogen wurden. Dabei mangelte es komplett an einer Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Sinngehalt. Der sei, so das BVerfG, aufgrund des Vortrages zu den Verschwörungstheorien der Reichsbürger hinreichend bestimmt und damit nicht mehrdeutig zu interpretieren. Die Zugrundelegung der Stolpe-Doktrin sei somit ein Folgefehler gewesen.

Das BVerfG hält darüber hinaus die Sinndeutung des Begriffes „Antisemit“ als einen judenhassenden Menschen, der sich auf nationalsozialistisches Gedankengut stützt und zur Durchsetzung dieser Ansichten möglicherweise handlungsbereit sei, für fernliegend und nicht die eine (eindeutige) Interpretationsmöglichkeit, welche in dieser Sache herangezogen werden kann. Die zutreffende Sinndeutung deckt sich vielmehr mit den Ausführungen der Beschwerdeführerin hinsichtlich des modernen Antisemitismus-Begriffes.

Der zweite Fehler bestand darin, den Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Sängers deshalb als besonders schwerwiegend zu bewerten, weil er in der Öffentlichkeit stehe und von ihr beruflich abhängig sei. Das BVerfG erklärt, dass das Gegenteil der Fall sei: Dadurch, dass es ein Thema von außerordentlichem öffentlichen Interesse ist und die Frage, ob eine Person mit Leitbildfunktion antisemitische Gedanken und Anspielungen an die Öffentlichkeit trägt, ist der Eingriff weniger schwerwiegend einzustufen, als es der Fall wäre, wenn es sich um eine einzig im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung gefallene Bezeichnung gehandelt hätte.

Die besondere Schwere ergebe sich überdies nicht aus der überspitzten Formulierung, da diese als Polemik mit Sachbezug von der Meinungsäußerung geschützt ist. Der Sachbezug wiederum ergebe sich aus den eigenen Aktionen des Sängers, welcher sich selbst „mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben“ hat und daher Kritik im Rahmen einer thematisch anknüpfenden, öffentlichen Diskussion hinnehmen müsse.

Das BVerfG hat die Urteile aufgehoben und entsprechend wieder zurück an das LG Regensburg verwiesen.

Fazit: BVerfG-Entscheidung kann nicht auf alle Situationen angewendet werden

Damit steht nun eines fest: Xavier Naidoo darf nach Ansicht des BVerfG im streitgegenständlichen Kontext als Antisemit bezeichnet werden, wenn aus den Umständen eindeutig hervorgeht, dass derselbe polemische Antisemitismus-Begriff gemeint ist, den die Beschwerdeführerin ihren Äußerungen zugrunde gelegt hat. Eine andere Sinndeutung dürfte auch trotz der jüngsten Aktionen des Sängers nicht ohne weiteres zulässig sein.

Seine neuesten Statements beziehen sich nämlich allesamt auf Aussagen, die im Kern der Weltanschauung von Souveränisten und Reichsbürgern entsprechen und nicht unbedingt isoliert voneinander beurteilt werden sollten. Dazu zählt das Mitwirken an der Querdenker-Hymne „Ich mach da nicht mit“, in deren Musikvideo die Explosion eines Impfzentrums gezeigt wird und es heißt, dass die Corona-Maßnahmen von einer matrixähnlichen Diktatur geschaffen wurden und diejenigen, welche sich impfen lassen, „apathische satanische Sklaven“ seien.

Daneben wurde über einen von Naidoo geteilten Video-Post via Telegram berichtet, in welchem der Holocaust als „gelungene historische Fiktion“ und „Märchen“ bezeichnet wird, weil das Biozid Zyklon B sich gar nicht zum Vergasen eigne. Zusammenfassend ist demnach mittlerweile fraglos die Bezeichnung des Sängers als „Antisemiten“ in der obigen Deutungsvariante zulässig.

Aber Achtung: Die Rechtsprechung des BVerfG ist unter keinen Umständen so auszulegen, dass nun auch andere Personen oder Gruppierungen pauschal als „Antisemiten“ bezeichnet werden dürfen! – Bei dem Vorwurf, ein Antisemit zu sein, handelt es sich um eine schwere Anschuldigung, zu dessen Rechtfertigung die Beweggründe in jedem Einzelfall entweder dem Beweis zugänglich sein oder, im Falle eines Werturteils, einer Verhältnismäßigkeitsprüfung statthalten müssen. Andernfalls würde der Begriff verharmlost werden.

Außerdem fehlt es bei den Entscheidungsgründen des BVerfG an hinreichend substantiierten Ausführungen hinsichtlich der Voraussetzungen, ab wann eine Bezeichnung als „Antisemit“ ebenjener Deutungsvariante zuzuordnen ist. Denn aus der allgemeinen Lebenserfahrung ergibt sich nun einmal die Tatsache, dass unter dem Begriff „Antisemit“ unterschiedliche Dinge verstanden werden können. Eine wie in diesem Fall eindeutige Auslegung dürfte daher eher die Ausnahme von der Regel sein.

Diese Entscheidung sollte daher vielmehr als Signal für die herausragende Relevanz von Meinungsfreiheit als Merkmal eines demokratischen Staates, der eine kritische Auseinandersetzung mit Äußerungen und Taten von in der Öffentlichkeit stehenden Personen zulässt und unterstützt, angesehen werden.

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